Stadtbibliothek Karben
Maßanzug in weiß-orange
Es sind keine 500 Meter von der alten zur neuen Adresse: Doch im Zuge des Umzugs vom "Citycenter" zu einem "Neue Mitte" getauften Gebäudekomplex nahe des S-Bahn-Bahnhofs erfindet sich die Stadtbibliothek im Frankfurter Vorort Karben neu. Man tauschte einen Teil der Medien aus, man vergrößerte sich auf mehr als das Doppelte der ursprünglichen Fläche, auch die Öffnungszeiten steigerten sich um fast das Doppelte. Und wo früher sich kein Leser setzen konnte – etwa zum Überfliegen des Klappentextes oder gar zu kurzem Durchblättern eines womöglich interessanten Buches -, so bieten sich in den neuen Räumen eine ganze Reihe von Gelegenheiten – von einfachen Kissen über den spartanischen Arbeitsstuhl und den komfortablen Sessel bis hin zur Matratze zum Lümmeln in der Märchenecke. Statt Ausleihstelle will man künftig kultureller Treffpunkt und Ort der Begegnung mit großer Aufenthaltsqualität sein. Alles kann, keines muss, ist das Motto von Bibliotheksleiterin Antonia Berberich. Will sagen: Wichtig sind sowohl die räumlichen Möglichkeiten als auch die technische Infrastruktur, um ein auf alte und neue Lesergruppen ein abgestimmtes Programm entwickeln zu können. Was konkret, das werden neben eigenen Ideen vorzugsweise die Kooperationen mit anderen Einrichtungen – unter anderem dem Jugendkulturzentrum, Kindertagesstätten und Altenheimen – zeigen.
Dass die neuen Räume eine Vielzahl von neuen Möglichkeiten erschließen, ist der Verdienst von Marie-Therese Deutsch. Was sachlich-trocken "Innenausbau" heißt, ist in Wahrheit ein auf die Bedürfnisse der Bücherei und ihrer Neuerfindung zugeschnittener Maßanzug geworden. Wobei – um im Bild zu bleiben – dieser Maßanzug zum einen noch deutliche Stoff-, sprich: Infrastruktur-Reserven hat, um auch, soweit absehbar, in zehn oder zwanzig Jahren noch ganz gut und figurbetont zu passen. Zum anderen ist er äußerst variabel. Ob lesen, ein Magazin durchblättern oder Musik oder ein Hörbuch hören, ob unterrichtet werden, am Laptop arbeiten oder Spiele spielen – das ist alles ohne weitere Umstände möglich. Man kann künftig aber auch zur Stadtbücherei Karben kommen, um Vorträge, Lesungen, Indoor- und Outdoor-Kino zu besuchen. Sogar Empfänge und Dinners sind möglich.
Diese Variabilität ist dem Mobiliar aus weiß beschichtetem Holzwerkstoff geschuldet. Deutsch ließ vom Schreiner Bücherregale, "Büchertürme", Garderoben, Schließfachschränke und Magazinspender nach ihren Plänen fertigen. Stets 1,85 Meter hoch und mit einer metallverstärkten, kaum sichtbaren Fuge versehen, in die man die Gabel eines Möbelhubwagens stecken und damit beispielsweise einen bis zu einer Tonne schweren Bücherturm kippsicher versetzen kann. Das Mittel ist einfach, die Wirkung indes spektakulär: Im Normalbetrieb strukturiert das weiße Mobiliar – auch Wandverkleidungen und Bänke sind aus besagtem Holzwerkstoff – den multifunktionalen Allraum, bildet unterschiedliche räumliche Situationen, Nischen, Séparées, offene Szenerien, kontrahiert Räume und weitet sie. Im Veranstaltungsbetrieb schiebt man mit den Hubwagen alle Regale und Türme zusammen und bekommt eine freie Fläche, auf der bis zu 120 Besucher etwa einer Lesung bewohnen können. Ein paar Büchertürme allerdings stehen fest – sie verkleiden insgesamt fünf Stützen (zwei weitere befinden sich an Wänden). In diesen Türmen hat die Architektin ebenfalls 1,85 Meter hohe, weiß lackierte Heizkörper integriert.
Als Kontrast zur eher kühlen, weißen Pracht – die selbstverständlich durch die Bücherrücken aufgelockert wird – finden sich orangefarbene Sitzkissen auf den Bänken, orange bezogene Matratzen in der Märchenecke und ein orange marmorierter, strapazierfähiger Linoleumboden. Bewusst als warmer Gegenpol eingesetzt, verkörpert dieses Orange das Spielerische in einer ästhetisch strengen, jedoch funktional flexiblen Ordnung. Die Sitzkissen auf den Bänken kann man zu Gruppen zusammenschieben, auf den Matratzen kann man sogar schlafen (Märchennächte mit Übernachtung sind angedacht). In der Mitte der nördlichen Wand befinden sich ein überdimensionaler Monitor sowie eine Leinwand mit Beamer, so dass auch eine Gruppe zusammen einen Film angucken kann. Die gleiche Ausstattung steht auch auf der Terrasse zur Verfügung. Vorstellbar ist also, dass künftig einige Karbener einige laue Sommerabende in ihrer Stadtbibliothek beim Outdoor-Kino verbringen. Auch Video- und Konsolenspiele werden künftig im Angebot der Bücherei sein, die passenden Virtual Reality Brillen wurden schon angeschafft.
Es war ein großes Anliegen von Deutsch, die Bücherei zukunftssicher zu machen – so weit wie möglich. Die Technik bleibt weitgehend unsichtbar, dennoch sind überall USB-Anschlüsse und Steckdosen zu finden. Weil auch Revisionsklappen flächendeckend vorhanden sind, kann die man die leicht zugänglichen Kabelstränge ergänzen oder austauschen. Und natürlich gibt es ein leistungsstarkes W-LAN. Selbst das Licht ist steuerbar. Auf Veranlassung der Architektin hat die Frankfurter Niederlassung des Leuchtenherstellers Artemide für die Bücherei einen Beleuchtungsplan erarbeitet. Mit den Spots und Strahlern an der Decke sowie mit den selbstverständlich orangefarbenen Objektleuchten lassen sich bis zu sieben verschiedene Lichtszenarien zaubern: Ob Märchenstunde oder großer Empfang, ob Lesung oder Unterricht, je nach Anlass kann das Personal über einen Schalter die gewünschte Lichtstimmung einstellen. Wobei das Licht im Normalbetrieb so geregelt ist, dass selbst die Bücher bzw. ihre Rücken im untersten Regalbrett noch genügend beleuchtet werden, um lesbar zu sein.
Es ist erstaunlich: In eine Etage eines wenig ansehnlichen Gebäudekomplexes in einem wenig ansehnlichen Umfeld aus Gewerbe-, Park- und Ackerflächen hat die Architektin Marie-Therese Deutsch einen eigenen Bücher- und Medienkosmos geschaffen. Dass dieser Kosmos eher selbstbezogen ist, nimmt angesichts der Umgebung kein Wunder. Dass dieser Kosmos ein angenehmes, sowohl sinnliches als auch großzügiges Raumerlebnis bietet, angesichts der baulichen Bedingungen schon eher. Bewährt hat sich darüber hinaus die Kooperation zwischen Bauherrin, Nutzerin und Planerin: Silke Radetzky, Projektleiterin der Stadt Karben, Büchereichefin Berberich und Architektin Deutsch besuchten zusammen mehrere Stadtbibliotheken in Hessen, um sich auf den neuesten Stand hinsichtlich Programmvielfalt und Dienstleistungen, Ausstattung, aber auch digitale Erfordernisse zu bringen. Diese Reise und deren Erkenntnisse haben der neuen Stadtbücherei Karben gut getan. Schon in den letzten Monaten am alten Ort verzeichneten die Karbener Bibliothekare einen großen Zulauf von Lesern aus umliegenden Gemeinden und Städten. Sicher ist, dass sich der Zulauf in die neuen, maßgeschneiderten, weiß-orangen Räume der Stadtbücherei noch mehr lohnen wird.
Enrico Santifaller